Familienmaximen: Interesse und Vertrauen

Rena Haftlmeier-Seiffert, Familienmaximen: Interesse und Vertrauen, in: unternehmermagazin 3/4-2013, S. 40 f.


Gerade bei älteren Familienunternehmen mit einer im Laufe von Generationen gewachsenen Unternehmerfamilie ist zu beobachten, dass Zentrifugalkräfte wirksam werden können, und die Bindung der Eigentümer an ihr Unternehmen und untereinander immer loser, unverbindlicher und beliebiger wird.

Mit einer unverbundenen und wenig empathischen Eigentümerschaft kann aber bei einem Familienunternehmen der Wettbewerbsvorteil Familie zum Wettbewerbsnachteil für das Unternehmen gereichen.

Trotzdem gibt es auch viele größere Unternehmerfamilien, bei denen die meisten Mitglieder eine starke Identifikation mit dem Unternehmen und der Großfamilie kennen. Dann gibt es in der Regel eine starke Familienkultur, eine entsprechende Unternehmenskultur, dann gibt es gemeinsame und von allen voll vertretene Werteprägungen und oft sehr viele lebendige Geschichten rund um die Gründer oder frühere Unternehmenslenker oder ehemalige Familienmitglieder, die bei jedem Erzählen und (dabei gewollt oder ungewollt) Interpretieren wieder zur Rückbindung beitragen.

Sind keine lebendigen und starken Bindungsmechanismen (mehr) vorhanden, können diese unter Umständen durch einen bewussten Prozess installiert werden, indem die Unternehmerfamilie die Maximen aufspürt, die für alle Mitglieder Gültigkeit haben, und am Ende auch schriftlich festhält. Gegebenenfalls können diese dann auch eingefordert werden.

Fallbeispiel:

Die Firma Heigula GmbH & Co KG wurde von den Brüdern Heinrich und Gustav Lammert im Jahre 1931 gegründet. Die Brüder vererbten ihre jeweils 50% Anteile an ihre Kinder unter der Auflage, dass die Stämme ihre Anteile bündeln müssten und immer ein Stammesvertreter zu benennen sei. Mittlerweile gibt es als Gesellschafter 11 Nachkömmlinge aus dem Stamm Heinrich und 19 aus dem Stamm Gustav sowie eine reine Fremdgeschäftsführung.

Die Nachkömmlinge von Heinrich lebten (und leben) wie ihr Stammvater sehr bescheiden und vertreten eine stark christlich-pietistische Weltanschauung, während der Stamm Gustav extrovertiert und dem Leben zugewandt auftrat (auftritt). Die Familienmitglieder fühlten, dass in diesen unterschiedlichen Werteprägungen Konfliktpotential steckt und distanzierten sich voneinander und vom Unternehmen, um so möglichem Streit aus dem Wege zu gehen. Folge war, dass sich die jüngste Generation beider Stämme kaum mehr mit der Familie (auch nicht unbedingt mit dem eigenen Stamm) und mit dem Unternehmen identifizierte und keine starken Rückbindungen mehr vorhanden waren.

Als die Stammesvertreter dies und die sich daraus möglicherweise für das Unternehmen und die Familie entwickelnde Gefahr erkannten, initiierten sie einen Prozess, bei dem alle Familienmitglieder beteiligt waren, um gemeinsame Familienmaximen aufzustellen, die von allen vertreten werden konnten.

Als einige Zeit später ein großer Wettbewerber übernommen hätte werden können, war Eile geboten, denn es war nur eine Frist von 48 Stunden für das Vorkaufsrecht eingeräumt worden. Die Fremdgeschäftsführung drängte auf eine schnelle Entscheidung. Einer der Stammesvertreter befand sich jedoch auf einer Himalayaexpedition und konnte nicht während der 48-stündigen Frist erreicht werden. Der andere Stammesvertreter musste allein entscheiden.

Er lehnte ab. Aufgrund der schriftlich fixierten Familienmaximen war ihm klar, dass eine Übernahme von der Gesamtfamilie nicht gebilligt würde, da zum einen das finanzielle Risiko größer als von allen gewünscht wäre und zum anderen der Wettbewerber mehr als die Hälfte seiner Erzeugnisse an Waffenfirmen in Kriegs- und Krisengebiete lieferte, was für die Familie ebenfalls undenkbar war. Obwohl mit dieser Entscheidung große unternehmerische Möglichkeiten verpasst wurden, gab es danach weder Vorwürfe vom anderen Stammesvertreter, noch in der Familie Diskussionen oder gar Streit darüber. Man war sich einig, denn die Entscheidung des einzelnen Stammesvertreters war kongruent zu den von allen verabschiedeten und mitgetragenen Familiengrundsätzen.

Solche Familienmaximen können unterschiedlich benannt werden:
– Familiencharta
– Familiencodex (Familienkodex)
– Familienleitlinien/ Familienrichtlinien
– Familiensatzung
– Familienstrategie
– Familienverfassung
– Family Governance

Die meisten Begriffe sind leider etwas irreführend. Durch die Diskussion dieser Begriffe lässt sich darstellen, was Familienmaximen sind/ sein sollten und was nicht:

Mit Charta ist eigentlich eine (gar völkerrechtliche) grundlegende Urkunde gemeint, was die Familienmaximen nicht sind und sein wollen.

Codex (Kodex) bezeichnete ursprünglich einen Stapel von Holz- bzw. Wachstafeln bis hin zu Pergament- bzw. Papierblattstapeln, die zwischen Holzdeckeln gebunden waren, also eine Sammlung von (unzusammenhängenden) Notizen, Gedanken. In der Rechtswissenschaft ist Codex heute ein Synonym für Gesetzbuch. Die Familienmaximen sollen aber weder eine lose Blattsammlung von Gedanken darstellen noch entsprechen sie einem Gesetz. Relativ nah scheint noch der Begriff Ehrenkodex zu sein, denn an dessen Vorgaben zum Wohlverhalten orientieren sich alle, die einem solchen (per Eid) zugestimmt haben. Allerdings ist dieser in der Regel gerade nicht schriftlich fixiert. Auch sind Verhaltenscodices nicht zwingend einzuhalten.

Unter Leitlinien versteht man empfehlende Handlungsanweisungen, die aber keinerlei bindenden Charakter haben. Die Familienmaximen sind jedoch mehr als nur Empfehlungen. Die Familienmitglieder fühlen sich durchaus daran gebunden.

Richtlinien sind meist sehr konkrete Ausführungsvorschriften, die ‚von oben‘ erlassen werden und wenig Spielraum für individuelle Ausgestaltung eröffnen. Familienmaximen sollten aber nicht durch eine übergeordnete Person, ein übergeordnetes Gremium oder eine Institution erlassen, sondern von allen Mitgliedern getragen werden. Auch sollten sie keine engen Ausführungsvorschriften darstellen, da sie gerade bei unvorhersehbaren und bisher undenkbaren Ereignissen Gültigkeit haben und bei der Entscheidungsfindung helfen sollten.

Mit Satzung werden entweder Verträge oder sogar Rechtsnormen bezeichnet, die justiziabel sind. Familienmaximen sind dies aber in der Regel nicht und sollen es auch nicht sein.

Der ursprünglich aus dem Militär stammende Begriff Strategie wird heute häufig auch im Wirtschaftsleben bemüht. Mit ihm ist in der Regel ein sehr konkreter und vollständiger Plan unter Berücksichtigung aller verfügbaren Mittel und Ressourcen und unter Einplanung von Widrigkeiten gemeint, um ein längerfristiges Ziel zu erreichen. Familienmaximen sind jedoch keine konkreten Pläne, sondern bilden Grundprinzipien, auf deren Basis Pläne erarbeitet werden können.

Unter Verfassung versteht man das zentrale Rechtsdokument (eines Staates), das Grundgesetz. Sie ist grundlegend, absolut bindend und justiziabel. Familienmaximen sind zwar (moralisch) bindend, haben aber keinesfalls den mächtigen Status eines Grundgesetzes.

Mit Governance werden Kontroll- und Steuerungsstrukturen bezeichnet. Dabei geht es um Ordnungsprinzipien und die Regelung von Beziehungen von Einzelelementen, damit ein System als Ganzes funktioniert. Die Governance dient dem Management einer komplexen Organisation, sie ist ein Lenkungs- und Führungs- bzw. Verwaltungs- und Regelungsinstrument. Sie wirkt operativ und nicht normativ, was Familienmaximen jedoch tun (sollten).

Familiengrundsätze wäre ein Begriff, der sehr gut trifft, da ein Grundsatz eine Erkenntnis (oder auch eine Regel) darstellt, welche die Basis für nachfolgende Überlegungen und Handlungen bildet. Grundsätze sind also normativ. Außerdem sind sie (allgemein) anerkannt und verpflichtend, klar formulierbar, nicht weiter reduzierbar, in sich konsistent, unmittelbar einleuchtend und stellen ein Hilfsmittel dar, komplexe Zusammenhänge zu gliedern. Schönheitsfehler ist allerdings, dass ‚im Grundsatz‘ in der Rechtssprache ‚Regel mit Ausnahmevorbehalt‘ bedeutet und damit gerade die Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit relativiert wird.

Aus der (französischen) Moralphilosophie ist der Begriff Maxime bekannt. Er wird dort verwendet, um die obersten (persönlichen) Lebensregeln bzw. die (persönlichen) Grundsätze zu beschreiben, die das eigene Wollen und Handeln unmittelbar und maßgeblich steuern. Maximen entsprechen damit einem subjektiven (nicht rechtlichen) Gesetz, das Grundlage für das eigene Denken und Agieren bildet. Wird dieser Begriff nun vom einzelnen Individuum auf eine Familie übertragen, so stellen die Familienmaximen die familiensubjektiven, normativen und (moralisch) verbindlichen Grundsätze für die Familienmitglieder dar, die ihr Denken und Handeln leiten und bestimmen.


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